Joachim Gaus – eine Erinnerung
Im Frühherbst 2016 wurde unser lieber Kollege im Alter von 79 Jahren aus dem Leben gerissen. Manch einen hätte der Tod in diesem schon hohen Alter auf der Schwelle eines langen Abschieds ereilt. Joachim Gaus aber hatte noch bis 2014 gelehrt und Abschlussarbeiten betreut. Uns genommen wurde ein Gelehrter, dessen unermüdliche Selbsterneuerung zu wesentlichen Teilen aus der Lehre schöpfte – einer Lehre, die er seit 1970 an diesem Ort betrieben hatte. Mit dem Begriff des Gelehrten verbinde ich hier die seltene Fähigkeit des Vordenkens auf weiten Feldern der Wissenschaft, gepaart mit dessen Rückbindung an eine Gemeinschaft der Lernenden. Letzteres ist wohl eher eine Gabe als eine Fähigkeit. Joachim Gaus eignete sie in großartiger Weise. Er selbst verstand seine Befähigungen eher als Auftrag, ohne darüber große Worte zu machen. Als gelehrsam haben wir ihn empfunden und erlebt. Joachim Gaus hätte an dieser Stelle allenfalls eingeräumt, dass er der Gelehrsamkeit nachstrebe, um vor der Größe der Aufgabe nicht zu scheitern.
Er war in dieser Weise uneitel - nicht zuletzt, weil er wusste, dass nicht er selbst es war, der die Kunst zum Leuchten brachte, sondern dass seine brillantesten Momente dem Umstand zu verdanken waren, dass er im Halo des Kometen Kunst stand und dessen Strahlkraft zu reflektieren vermochte. Dieses Wissen substanziell lebend, fehlte ihm jene Selbstüberschätzung, die Machtbewusstsein evoziert – eine in der akademischen Ellbogengesellschaft schützenswerte, aber von niemandem geschützte Tugend. Bis zu unseren letzten Gesprächskontakten wirkte er bisweilen jungenhaft auf mich - offen, aber auch verletzlich in seiner begeisterten Hingabe an die Sache der Kunst.
Sein Zugriff auf den Gegenstand war aus ebendieser Haltung heraus ein emphatischer,aber behutsamer. Er umkreiste das Kunstwerk in vielerlei Annäherung und ließ ihm am Ende sein Rätsel. Nie brachte er die Kunst unter Dach und Fach einer hegemonialen Denkvorschrift. Er erntete keine Ausschließlichkeit verkündenden Ergebnisse, bemaß die Prominenz einer Problemstellung nicht an einem für die eigene Positionierung zu erwartenden Ertrag, sondern freute sich an dem sokratischen Gedanken, dass Fragen in Fragen zu enden pflegen. Methodologische Beweglichkeit schien ihm Erfordernis jenes Perspektivenwechsels, der zugleich Antrieb seiner nie nachlassenden Lernbereitschaft aus experimenteller Neugierde war. Welche Themen hat er eigentlich unbearbeitet gelassen? Keinen Gedanken, den man im Gespräch an ihn herantrug, schob er beiseite, jeden ließ er als mindestens bewahrenswerten Versuch gelten, auf die Gefahr hin, dass sich das Archiv der Gedanken ins Unermessliche füllte.
Joachim Gaus war ein großartiger Multiplikator weniger durch Schreiben als durch Lehren. Das Schreiben aus dem Archiv der Gedanken heraus war ihm eine Frage der literarischen Gattung und mehr noch des rechten Maßes, weil ihm das Gedankensammeln nicht etwa vermittelte, sein Geschäft erschöpfe sich im Formulieren von Findbüchern zur res literaria. Evidenz und Relevanz des Argumentes erwiesen sich ihm vielmehr im mutigen, explorativen Erproben des Gedankens an einer dem Wissen unverhofft fremd gebliebenen Kunst. Mit dieser Disposition des kritischen Zweifels – des Zweifels auch und gerade an sich selbst − schreibt man weder Hand- noch Lehrbücher mit leichter Hand.
Gaus entdeckt für sich und Geistesverwandte das Format der Fusa, das zu gültigen Entwürfen von der Grazilität einer Achtelnote aufruft. Was er in dem gleichnamigen, von ihm mit ins Leben gerufenen Journal publiziert – es ist beinahe die Hälfte seiner Aufsätze - schreibt er als liebhabender Erforscher der Künste, so wie es der Untertitel des Periodikums vorsieht. Diese Haltung versteht und lebt er jenseits aller Naivität als ein der Kunst zugewandt und gesinnt Sein – eine Selbstverpflichtung, die seine ganze Existenz erfüllt, auch seine Bindung an die Menschen. Seine 115 Magistranden und 72 Dissertanten führt er nicht etwa zum Examen, sondern er begleitet sie in freundschaftlich fordernder Zuwendung. Seine Ansprache ist leise, aber bestimmt, wiewohl nicht bestimmend.
Wenn Joachim Gaus zur Feder griff, schrieb er vorrangig nicht für das Kollegium der Fachdisziplin, sondern für seine Hörerschaft. Weiß jemand unter uns, wie umfangreich seine sämtlich minutiös ausformulierten Vorlesungsmanuskripte sein mögen, die Semester für Semester ein neues Thema erschlossen? Wird sich jemand um die Herausgabe dieses Corpus bemühen? Ich wüsste kein lohnenderes Unterfangen für die bald anstehende Hundertjahrfeier des Kölner Kunsthistorischen Instituts. Von diesen 100 Jahren hat er 44 auf unnachahmliche Art mitgestaltet. Niemand verließ Dienstag morgens die für 8:00 angesetzte Vorlesung ohne das sichere Bewusstsein, das richtige Fach zu studieren, weil Kunst die Welt wenn auch nicht verbindlich erkläre, so sie doch unverzichtbar als Kosmos des mit Händen Formbaren und mit den Sinnen Wahrnehmbaren vergegenwärtige. Joachim Gaus‘ Dienstagsvorlesung galt der stets neu aufzunehmenden Spur der ins Bild gesetzten Vorstellungen des Menschen von sich und von den Bedingungen seiner Existenz. Sie galt jener vielsagenden Bildkunst, der wir uns zum Gedenken an diesen großen Lehrer zuwenden wollen.
Wir sind aufgerufen, den Faden, an dem Joachim Gaus ein Gelehrtenleben lang gesponnen hat, zu einem kleinen Muster des Rückbesinnens zu verweben.