Paolo Nestler – Aria d’Italia im Nachkriegsdeutschland
Projektleitung: Prof. Dr. Gabriella Cianciolo Cosentino
Von der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördertes Buch- und Forschungsprojekt (im Druck)
Im Jahr 2020 wäre der in Italien geborene Architekt, Designer und Hochschullehrer Paolo Nestler hundert Jahre alt geworden. München hat diesem produktiven und vielseitigen Architekten, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland tätig war, viel zu verdanken: U-Bahnstationen, Bankgebäude, Wohnanlagen, Villen und Luxusboutiquen, Museumsgestaltungen und Ausstellungspavillons. Dennoch ist er heute nahezu vergessen. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass er weder in Deutschland noch in Italien Gegenstand von Studien ist, da er – unverdient – als weniger bedeutend angesehen wird. Ein weiterer Grund ist im Wesen seines Werks zu suchen, das dazu bestimmt war, mit der Zeit zu verschwinden oder im Zuge des sich wandelnden Geschmacks verändert zu werden: Die eleganten Eisdielen der fünfziger Jahre wurden geschlossen oder umgebaut, die U-Bahnstationen werden immer wieder erneuert und temporäre Anlagen wie der Anbau am Haus der Kunst wurden wieder entfernt.
Nestlers Werke erlauben es, auf das Problem des Ephemeren beispielhaft einzugehen und es unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beleuchten. Seine Architektur, die zunehmend aus dem Stadtbild verschwindet, hat mich zu einer Reflexion über die Fragilität des architektonischen Schaffens der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg veranlasst, dessen Erhalt durch Erneuerung, notwendige Sanierung oder Zerstörung aus wirtschaftlichen, städtebaulichen und verkehrstechnischen Gründen bedroht scheint.
Das Buch soll ein erster Beitrag sein, um die planerische, didaktische und kritische Arbeit eines der Protagonisten der deutschen Architektur der Nachkriegszeit einem größeren Publikum bekannt zu machen. Sein Ziel ist es, die im Architekturmuseum der Technischen Universität München (das Nestlers Erbe verwahrt) befindlichen Materialien zu erschließen und das Profil eines Architekten zu zeichnen, der München nicht nur mit seinen Werken, sondern auch mit seiner Lehrtätigkeit an der Akademie der Künste geprägt hat. Zu den Verdiensten Nestlers gehört es, den Studiengang Innenarchitektur eingeführt zu haben, und mit ihm ein neues Berufsbild und eine neue Auffassung von Architektur als komplexes „Bezugssystem Mensch-Raum-Gegenstand-Licht-Farbe“. Nestler, der die monumentale, strenge und auf Dauer angelegte Ästhetik der nationalsozialistischen Zeit ablehnte, entwarf raffinierte, verspielte Innenräume, die diametral entgegengesetzte Werte wie Leichtigkeit, Dynamik, Vielfalt, Liebe zum Detail und sorgfältige Farbgebung verkörperten.
Das unkonventionelle Werk Nestlers, der sich zwischen München und Berlin, Wien und Bonn, Montreal und New York bewegte, umfasst Arbeiten unterschiedlichen Maßstabs, die von der Innenarchitektur bis zur Stadtplanung reichen. Seine berufliche und intellektuelle Biographie spiegelt die Bestrebungen, Spannungen und Widersprüche seiner Zeit, einer Epoche, die von der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ebenso wie von den Hoffnungen auf einen Neuanfang geprägt war. Wenn man Nestlers Arbeit als Architekt verstehen möchte, muss man bei seiner Biographie ansetzen, denn seine italienische Herkunft und die Kriegserfahrung stehen in enger Beziehung zu seinem kreativen Abenteuer, dessen Ansätze, Ergebnisse und Bedeutung sie bestimmt haben.