Formen der Leere – Architektur und Stadt
Forms of the Void – Architecture and the City
Projektleitung: Prof. Dr. Gabriella Cianciolo Cosentino
Kolloquium & Lesekreis SS2023 (Mi., 16.00 – 17.30, Raum S16 und online)
Colloquium and reading group SS2023 (Wed., 16.00 – 17.30, room S16 and online)
Die Leere – ein räumliches und doch immaterielles Konzept – ist reich an Zweideutigkeit, ja paradoxer Natur. Als rätselhafte räumliche (Nicht-)Konstruktion ist die Leere über historische Epochen und Geografien im Osten und Westen hinweg Gegenstand von Untersuchungen und eines der allgegenwärtigsten und fruchtbarsten Konzepte in wissenschaftlichen und akademischen Diskursen gewesen. Nur wenige andere räumliche Phänomene haben in so unterschiedlichen Disziplinen wie Physik, Metaphysik, Theologie und Ästhetik zum Nachdenken angeregt. In seinem Werk De Rerum Natura erörtert Lukrez die Streuung der Atome in einer unendlichen und tiefen Leere. In Japan kommt der unübersetzbare Begriff ‚ma‘ den westlichen Vorstellungen von Leere als negativem Raum oder einer Lücke sehr nahe, bedeutet aber auch eine Pause in der Zeit, ein Intervall zwischen verschiedenen Phänomenen, ein reichhaltiges raum-zeitliches Zwischenspiel. Doch welche Möglichkeiten gibt es heute, über die Leere nachzudenken?
Die Leere bezieht sich auf den Raum auf der anderen Seite der globalen Urbanisierung, die Gegendynamik der Megastädte, der Gentrifizierung und der Verdichtung. Es ist die Leere der Vorstädte, der ländlichen Gebiete, des Binnenlandes und ganzer postindustrieller oder postkatastrophaler Regionen. Die Leere ist auch der Raum, der durch die jüngste Pandemie entstanden ist. Die Krise und die Politik des Raums sind im Laufe der Geschichte voneinander abhängige Phänomene gewesen, die durch so unterschiedliche Ursachen wie Naturkatastrophen, Konflikte, Migration, neue Wirtschaftssysteme und alte Ideologien ausgelöst wurden. Überall auf der Welt gibt es eine Dialektik zwischen Fülle/Leere, Stadt/Land, Zentrum/Peripherie, wobei die Leere oft ein radikales Potenzial für Veränderung und Zukunft birgt. Nur durch die Leere können wir die Fülle lesen, verstehen und konstruieren.
Auf architektonischer Ebene hat die Leere schon immer eine zentrale Rolle in der Gestaltung gespielt: Sie kann physisch konstruiert, geometrisch definiert, emotional evoziert, ästhetisch angestrebt oder ideologisch aufgezwungen werden. Die Abwesenheit von menschlicher Präsenz, von Dekoration oder von Materialität kann eine Rolle spielen. Ob gebaut oder ungebaut, die Wirkung der Architektur wird durch die Leere verstärkt. Wie ein Resonanzboden verstärkt die Leere ihre Kraft und ihre Resonanz.
Seit dem ‚spatial turn‘ der 1980er Jahre ist der Diskurs über den Raum wieder zu einer wichtigen Forschungsfrage der Architekturtheorie geworden. Dieses Kolloquium wird die Leere als Phänomen in der Architektur und im Städtebau etablieren und ihre ‚Formen‘ in verschiedenen Maßstäben identifizieren, vom architektonischen Objekt bis zur urbanen Leere, womit wir Pufferzonen wie Baulücken, Restflächen, Niemandsländer oder Terrains Vagues meinen. Wir werden uns nicht nur mit der Leere selbst befassen, sondern auch mit der Metaebene ihrer Reflexion und Repräsentation, d. h. mit der Art und Weise, wie Fotografie und andere Medien sie geformt, dargestellt und vermittelt haben und unsere Wahrnehmung und Erfahrung beeinflussen.
Mit besonderem Augenmerk auf ihre transformative Kraft und Dynamik werden wir die Leere als intersektionalen Raum und Moment des Übergangs diskutieren, der über die Wahrnehmung der Leere als Nichts hinausgeht. Nach einer einführenden theoretisch-methodischen Sitzung, in der wir den konzeptionellen Rahmen des Themas umreißen, werden wir uns mit einer Reihe spezifischer Leerräume sowie den damit verbundenen ‚Handlungen‘ befassen, wie z. B. dem Einschließen und Umschließen, dem Entleeren und Füllen, dem (De-)Materialisieren und (De-)Konstruieren, dem Zerstören und Auslöschen, dem Ausgraben und Vergraben, dem Verdichten und Verdünnen.
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The void – a spatial and yet immaterial concept – is rich in its ambiguity, even paradoxical nature. As a mysterious spatial (non)construction, the void has been an object of inquiry across historical periods and geographies in the East and the West as well as one of the most ubiquitous and fruitful concepts in scientific and academic discourses. Few other spatial phenomena have invited reflection in disciplines as diverse as physics, metaphysics, theology, and aesthetics. In his De Rerum Natura, Lucretius discusses the scattering of atoms in an infinite and deep void. In Japan, the untranslatable term ‘ma’ cuts close to Western conceptions of void as a negative space or a gap, but also means a pause in time, an interval between different phenomena, a rich spatio-temporal interlude. But what are the current potentials for engaging in a reflection on the void?
The void relates to the space on the other side of global urbanization, the counter-dynamic to megacities, gentrification and densification. It is the emptiness of suburbs, of the countryside, of inland territories, and of entire post-industrial or post-catastrophic regions. The void also is the space opened by the recent pandemic. Crisis and the politics of space have been interdependent phenomena throughout history, induced by causes as diverse as natural disasters, conflicts, migration, new economies and old ideologies. Everywhere in the world there is a dialectic between fullness/void, city/country, center/periphery, where void often conceals a radical potential for change and future. It is only through the void that we can read, understand and construct the full.
At the architectural scale, the void has always played a central role in design: It can be constructed physically, defined geometrically, evoked emotionally, pursued aesthetically, imposed ideologically. The absence can be of human presence, of decoration, of materiality. Whether built or unbuilt, architecture’s agency is increased by the void. Like a sounding board, void amplifies its power and its resonance.
Since the ‘spatial turn’ of the 1980s, the discourse of space has once again become an important research question in architectural theory. This colloquium will establish void as a phenomenon within architecture and urbanism, identifying its ‘forms’ at different scales, from the architectural object to the urban void, by which we mean buffer zones, such as building gaps, leftover spaces, no man’s lands, wastelands or terrains vagues. We will address not only the void itself, but also the meta-level of its reflection and representation, that is, the way photography and other media have shaped, depicted and mediated it, influencing our perception and experience.
Placing a particular focus on its transformative power and dynamics, we will discuss the void as an intersectional space and moment of transition, going beyond the perception of void as nothingness. After an introductory theoretical-methodological session, in which we will outline the conceptual framework of the subject, we will address a series of specific voids as well as the ‘actions’ related to them, such as containing and enclosing, emptying and filling, (de)materializing and (de)constructing, destroying and erasing, excavating and burying, densifying and rarefying.