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Teilprojekt: Gewölbe des Prager Hradschin

Dekonstruktive Architekturkonzepte um 1500 und ihre rationalen Grundlagen

Der prominenteste Beitrag der deutschen Architektur um 1500 zum Aufbruch der repräsentativen Künste in die Frühe Neuzeit sind spektakuläre Gewölbekonstruktionen. Jene fungieren als Leitmotive reklamierter Kompetenz sowohl der Bauherren als kunstsinnige Auftraggeber als auch der Urheber als Vertreter einer neuen, wissenschaftlich begründeten Architekturlehre.

Die Architekten der nordalpinen Architektur hatten sich im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts zahlreiche Formgelegenheiten erarbeitet, ihr auf geometrischem Entwurf und souveräner steintechnischer Erfahrung basierendes Wissen wirkungsvoll zur Schau zu stellen und so den Rang ihres Metiers in einem Wettstreit der Künste und Fähigkeiten zu artikulieren, der durch irritierende Umbrüche der Raumperzeption ausgelöst war.

Wenn die beispiellose Virtuosität der Artefakte zumeist das Potential der räumlich gekrümmten Linie zum Thema hat, dann spielten die Raumkünstler damit jene Sachverständigkeit aus, die ihnen wegen der Linearität der gotischen Formsysteme über Generationen hinweg zugewachsen war. Die linear-figurativen Ordnungen der Rippengewölbe boten wegen der Dreidimensionalität der sphärisch gekrümmten Decke ein vorzügliches Experimentierfeld für solcherlei Ambitionen, ›Raumwunder‹, die Wissen und Handlungskompetenz der Architekten veranschaulichen konnten, mit den genuinen Mitteln der Steinmetzkunst zu erzeugen.

Diese Raumentwürfe thematisieren gleichsam den Freiheitserwerb des Gewölbes von jeglicher konstruktiv-funktionalen Verpflichtung für die Sicherung des Baubestandes. Die neue Aufgabe des Gewölbes ist es, das Entbinden des Raumes von seiner materiellen Hülle zu visualisieren, was man als eine emanzipatorische Idee im Sinne der Kunsttheorie der Renaissance bezeichnen könnte.
Die Erforschung der dekonstruktivistischen Gewölbe umfasst sowohl deren baugeometrischen Entwurf als auch die bautechnische Umsetzung. Sie dokumentiert zunächst den ausgeführten Bestand und rekonstruiert auf dieser Grundlage die Formfindung als eine Kette ineinander greifender Prozesse von Planen und Bauen.

Die am Bestand sowie an dessen 3D-Modellierung nachgewiesenen Konstruktionen werden mit der zeitgenössischen geometrischen Traktatliteratur und mit den in großer Zahl überlieferten Gewölberissen systematisch abgeglichen und in Hinsicht auf das Verhältnis zwischen theoretischem und baupraktischem Wissen untersucht.

Das Forschungsprojekt vereint Fragen der Architekturgeschichte und Bauarchäologie mit solchen der Planungs- und Konstruktionswissenschaften. Es versteht sich als interdisziplinärer Versuch, den bedeutendsten Beitrag Mitteleuropas zur Erneuerung der Architektur am Beginn der frühen Neuzeit erstmals in voller Spannweite seiner künstlerischen und konstruktiven Perspektiven zu untersuchen und in eine Geschichte des Architekturwissens einzuordnen.